Das Weddinger Modell
Das Weddinger Modell ist ein Ansatz zur Ressourcen- und Resilienzorientierung, sowie Insividualisierung von Therapie und Genesung in der psychiatrischen Behandlung. Die Arbeit mit multiprofessionellen Teams und im Trialog zwischen Betroffenen, Angehörigen und Professionellen ist dabei ein wichtiger Bestandteil.
Seinen Namen erhielt das Modell aufgrund des Versorgungsbezirks (Stadtteil Wedding in Berlin) des Alexianer St. Hedwig Krankenhauses, in dem das Modell entwickelt, erprobt und mehrfach evaluiert wurde. Das Weddinger Modell ist aus der Praxis entstanden und versteht sich nicht als festes Regelwerk, sondern als Denkanstoß sich kritisch mit den vorhandenen Strukturen und Vorgehensweisen auseinanderzusetzen. Dabei geht es vorrangig um den Abbau vorhandener parternalistischer und defizitorientierter Strukturen und eine Veränderung der Haltung des Personals.
In einen paternalistischen Therapieansatz verfügen die Behandelnden vemeintlich über umfassendes Wissen und Kenntnisse zur Behandlung eines Betroffenen und sind die ‚Expert:innen‘, die weitestgehend alle Entscheidungen in der Behandlung treffen. Das Weddinger Modell strebt hingegen einen größtmöglichen Einbezug von Betroffenen und Angehörigen in den Behandlungs- und Genesungsprozess an. Dabei wird eine maximale Transparenz gegenüber Beroffenen und Bezugspersonen, sowie auch innerhalb der einzelnen Professionen des multiprofessionellen Behandlunsgteams angestrebt. Dies bedeutet, dass Angehörige mit Einwilligung des Betroffenen an allen Behandlungsbestandteilen (z.B. Visiten) teilnehmen können und hierzu explizit eingeladen wernden. Auch die weit verbreitete Vor- und Nachbesprechung bei Visiten erübrigt sich mit dem Ansatz der maximalen Transparenz. Zudem sollen aus Gesprächen über die Betroffenen Gespräche mit den Betroffenen werden. Bei Sprachbarrieren werden Sprachmittler:innen eingesetzt. Die zeitliche Flexibilität wird durch telefonische Angebote wie Triaphon erheblich erleichtert.
Zudem hat sich das Weddinger Modell zum Ziel gesetzt, einen defizitorientierten Ansatz, der auf die Probleme, Schwächen und Abweichungen fokussiert ist, abzubauen und zu einem ressourcen- und resilienzorientierten Ansatz hinzuarbeiten, der vorhandene Stärken in den Fokus nimmt und die Behandlung individualisiert. Dabei hat sich das Weddinger Modell die ‚Normalisierung‘ der stationären Behandlung zum Ziel gesetzt. Dies bedeutet, dass ‚offene Türen‘ in allen Behandlungskontexten, sowie Ausgänge in das reguläre Umfeld der Betroffenen während der Behandlung angestrebt werden, Rückzugsräume für Betroffene existieren und die Einrichtung und Ausstattung der Stationen weitestgehend einem normalen Wohnumfeld entspricht. Zudem werden Straftaten (Dealen, Übergriffe, Diebstähle etc.) während der stationären Behandlung angezeigt.
Das Weddinger Modell ist für alle Bereiche der Behandlung konzipiert und bezieht explizit ambulante Behandlungsräume (Medizinische Versorgungszentren (MVZ), Ambulante psychiatrische Pflege (APP), Soteria, Tageskliniken, Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) etc.) neben der stationären Behandlung (Krankenhausbehandlung) mit ein. Zudem setzt sich das Weddinger Modell zum Ziel ambulante und stationäre Behandlung besser zu verzahnen, die ambulante Behandlung zu priorisieren und durch Kontinuität der Behandelnden im stationären und ambulanten Setting die Behandlungserfolge zu verbessern.
Zwangsmaßnahmen (Fixierungen, Isolierungen, Zwangsmedikation, Behandlung gegen den Willen der Betroffenen) werden explizit als Ultima Ration zum Schutz des Betroffenen und Anderer formuliert. Dabei wird deutlich gemacht, dass zur Vermeidung von Zwang zunächst alle Alternativen ausgeschöpft sein müssen. Dies schließt einen Vertrauensvorschub gegenüber Betroffenen und Angehörigen und insbesondere wirkliche Entscheidungsmöglichkeiten und ernst gemeinte Angebote für die Betroffenen ein. Zudem wird der Verbindlichkeit von Absprachen auf Seiten der Professionellen eine große Bedeutung beigemessen. Unvermeidliche Zwangsmaßnahmen sollen nach Möglichkeit mit den Betroffenen nachbesprochen werden. Die Nachbesprechung kann dabei sowohl kurz nach der Zwangsmaßnahme, als auch mit erheblichen zeitlichen Abstand erfolgen. Hiezu sollte dem Betroffenen eine Nachbesprechungsoption, ggf. wiederholt, explizit angeboten werden. Ein Handlungsleitfaden zur Nachbesprechung wurde kürzlich veröffentlicht.
Weitere Informationen zum Weddinger Modell finden sich im gleichnamigen Buch von Lieselotte Mahler, Ina Jarchov-Jàdi, Christiane Montag, Jürgen Gallinat (2014): Das Weddinger Modell. Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. 1. Auflage. Psychiatrie-Verlag.
Eine Anleitung zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen findet sich in Lieselotte Mahler, Alexandre Wullschleger, Anna Oster (2022): Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen. Ein Praxisleitfaden. 1. Auflage. Psychiatrie-Verlag.
Multiprofessionelle Bezugstherapeutenteams
Die Zusammenarbeit vieler verschiedene Professionen bei der Behandlung psychischer Erkankungen findet weite Verbreitung, insbesondere in der stationären Versorgung (Krankenhausbehandlung). Dennoch unterscheidet sich die gängige Praxis der multiprofessionellen Behandlung in vielen Kliniken erheblich von der Idee der multiprofessioneller Behandlungsteams im Sinne des Weddinger Modells. Zwar beinhalten die Therapiepläne bei stationären Behandlung in der Regel Angebote durch verschiedene Professionen (Sozialarbeiter:innen, Kunsttherapeut:innen, Pflegepersonal, Ärzt:innen, Psycholog:innen, Ergotherapeut:innen, Sporttherapeut:innen u.v.m.) und Visiten und Fallbesprechungen finden in der Regel multiprofessionell statt. Merkmal dieser multiprofesionellen Teams ist jedoch häufig eine fortbestehende Dominanz ärztlichen und ggf. psychologischen Personals, die häufig auch als ‚Behandler:innen‘ bezeichnet werden, obwohl alle anderen Professionen ebenso maßgeblich an der Behandlung beteiligt sind. Ärzt:innen und Psychologische Psychotherapeut:innen nehmen dabei häufig, gemessen am Redeanteil und der Führung der Besprechungen/ Visiten und des Anteils der von ihnen getroffenen Entscheidungen eine übergeodnete Stellung ein. Dabei werden die nächsten Behandlungsschritte, die Dauer einer Behandlung, die Gestaltung des Therapieplans und die Ziele der Behandlung häufig FÜR die Betroffenen und nicht MIT den Betroffenen getroffen.
Im Weddinger Modell nehmen die einzelnen Professionen eine gleichberechtigte Funktion in der Behandlung ein. Dies bedeutet, dass Visiten und Besprechungen sowohl durch ärztliche/ psychologische Mitarbeiter:innen, als auch durch Pflegepersonal oder Spezialtherapeut:innen geleitet werden können, beziehungsweise es sich um einen multiprofessionellen, gleichberechtigten und transparenten Prozess auf Augenhöhe mit den Betroffenen handelt.
Zudem kommt der Behandlungskontinuität eine große Bedeutung zu. Dies erfolgt zum durch Home-Treatment-Teams, das heißt einer Weiterbehandlung durch die gleichen Personen im ambulanten Setting nach Entlassung aus dem Krankenhaus. Zudem wird durch die gleichberechtigte Einbeziehung verschiedener Professionen in das Behandlungsteam eine Behandlungskontinuität bei Personalausfällen durch Dienste, Urlaub und Krankheit gewährleistet.
Trialog
Der Begriff Trialog wurde ursprünglich im Kontext der Behandlung schizophrener Erkranungen in Form von Trialog-Psychoseseminaren geprägt und bezeichnet einen gleichberechtigten Austausch von Betroffenen, Professionellen und Angehörigen.
Offener Dialog (Open Dialog)
Das aus Finnland stammende Konzept des offenen Dialogs findet als ursprünglich gemeindezentrierte Hilfe in verschiedenen Bereichen Beachtung. Dabei ist das Ziel ambulante vor stationärer Hilfe, insbesondere bei psychotischen Episoden, anzubieten, wobei die Hilfen explizit flexibel und mobil gestaltet werden. Somit sollen Krankenhausaufenthalte vermieden oder verkürzt werden und durch stärkeren Einbezug psychosozialer Faktoren (soziales Netzwerk) in die Behandlung der Einsatz von Psychopharmakotherapie reduziert werden. Zentral sind dabei frühzeitig, auf Partizipation und Selbstbestimmung basierende Netzwerkgespräche/ Therapieversammlungen zwischen einem Behandlunsgteam, Betroffenen und Bezugspersonen. Dabei ist zentral, dass die Behandlungsteams während ambulanter und stationärer Behandlungen konstant bleiben. Ein erstes Netzwerkgespräch sollte idealerweise innerhalb der ersten 24 Stunden nach Kontaktaufnahme erfolgen.
Ein Film mit deutschsprachigen Untertiteln zum Thema Offener Dialog ist hier kostenfrei verfügbar.
Seikkula, J., Alakare, B., Aaltonen, J., Holma, J., Rasinkangas, A., & Lehtinen, V.: Open Dialogue Approach: Treatment Principles and Preliminary Results of a Two-Year Follow-Up on First Episode Schizophrenia. In: Ethical Human Sciences and Services. Band 5, Nr. 3, 2003, S. 163 – 182.
Jaakko Seikkula, Tom Erik Arnkil (2022): Offener Dialog. Die Vielfalt der Stimmen im Netz. 1. Auflage
Behandlungsvereinbarung
Die Behandlungsvereinbarung ist eine von Betroffenen und und der psychiatrischen Klinik verfasste Erklärung zum Willen des Betroffenen hinsichtlich der Vorgehensweise zukünftiger Behandlung. Die Behandlungsvereinbarung entspricht einer Patientenverfügung und ist rechtlich bindend. Die Behandlungsvereinbarung beeinhaltet individuelle Absprachen bzgl. Wünschen bei einer zukünftigen stationären Aufnahme. So werden Informationen wie Kontaktdaten wichtiger Bezugspersonen, ambulant behandelnde Personen, aktuelle Medikation, gewünschte Medikation (inklusive Darreichungsform: Saft, Tablette, Spritze, Depotgabe) und gewünschte Interventionen im Falle einer Krisensituation (Spaziergang, alleine gelassen werden, etc.) festgehalten. Die Behandlungsvereinbarung erklärt somit Betroffene explizit zu Expert:innen in eigener Sache, die Einfluss auf ihre Behandlung und somit Verantwortung für sich und ihre Genesung übernehmen. Zur Erstellung der Behandlungsvereinbarung erfolgt außerhalb einer stationären Behandlung ein Gespräch zwischen Betroffenen und psychiatrischer Klinik von ca. 45-60min. Die Behandlungsvereinbarung wird in der Regel im digitalen Klinikinformationssystem hinterlegt, sodass bei Aufnahme das beteiligte Personal der Klinik darauf Zugriff hat.
Entstanden ist die Idee der Behandlungsvereinbarung im Rahmen eines Trialog-Treffens in Bielefeld. Das Blanko-Formular der Behandlungsvereinbarung sowie weitere Informationen zur Bielefelder Behandlungsvereinbarung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Evangelischen Klinikum Bethel gGmbH können an dieser Stelle eingesehen werden.
Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen
Zwangsmaßnahmen stehen im Widerspruch zur Selbstbestimmung partizipativer Behandlung. Dennoch können diese in Ausnahmesituationen notwendig sein, um Gefahren für Betroffene und Andere abzuwenden und eine partizipative Entscheidungsfindung und Selbstbestimmung wieder möglich zu machen. Daher liegt der Fokus darauf, Zwangsmaßnahmen zu reduzieren und durch Maßnahmen wie der Nachbesprechung von Zwangmaßnahmen ihre negative Folgen für Betroffene, Angehörige und Professionelle zu reduzieren und im Idealfall zukünftig die Frequenz der Zwangsmaßnahmen zu reduzieren.
Aus der Praxis des Weddinger Modells und einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe am St. Hedwig Krankenhaus Berlin, als Teil der psychiatrischen Universitätsklinik der Charité Berlin, ist ein Leitfaden zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen hervorgegangen und evaluiert worden.
An der Nachbesprechung nehmen der Betroffene und wenn gewünscht Bezugspersonen teil. Zudem nehmen zwei Personen des psychiatrischen Behandlungsteams teil. Einer an der Zwangsmaßnahme unbeteiligte Person übernimmt die Moderation. Die andere Person ist an der Zwangsmaßnahme beteiligt bzw. am Entscheidungsprozess zur Umsetzung beteiligt gewesen. Die Nachbesprechung sollte möglichst zeitnah nach der Zwangsmaßnahme erfolgen. Über den Zeitpunkt der Durchführung entscheiden jedoch letztendlich die Betroffenen. Als Rahmen wird ein Gespräch von ca. 30-45min veranschlagt. Eine Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen sollte immer angeboten und auch nach erster Ablehnung durch die Betroffenen erneut angeboten werden. Es geht dabei um einen moderierten Austausch zu den Geschehnissen und dem Erlebten der beteiligten Betroffenen und des psychiatrischen Behandlunsgteams, dass die Zwangsmaßnahme durchgeführt hat. Dabei sind der Entscheidungsprozess und die Frage nach Handlungsalternativen besonders zentral. Zudem ist für zukünftige Zwangsmaßnahmen bedeutsam, was den Betroffenen während und nach Beendigung der Zwangsmaßnahme gut getan hätte. Zudem ergeben sich aus der Nachbesprechung zum Teil wichtige Aspekte für einen Krisenplan oder eine Behandlungsvereinbarung.
Standardisierte Nachbesprechungen von Zwangsmaßnahmen werden auch in der S3-Leitlinie zur Vermeidung von Zwang und Gewalt empfohlen.
Eine Anleitung zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen findet sich in Lieselotte Mahler, Alexandre Wullschleger, Anna Oster (2022): Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen. Ein Praxisleitfaden. 1. Auflage. Psychiatrie-Verlag.
Soteria
Die Kernelemente des Soteria-Konzeptes sind eine Psychosebegleitung in Form aktiven Dabei-Seins, ein zurückhaltender Umgang mit antipsychotische Medikation und die zentrale Bedeutung eines milieutherapeutischen Ansatzes.
Aktuell existieren in Deutschland sechs Soteria-Angebote:
- ZfP Südwürttemberg am Standort Zwiefalten (seit 1999)
- kbo-Isar-Amper-Klinikum Region München (seit 2003)
- Zentrum für Psychiatrie der Reichenau (seit 2012), Psychiatrisches Krankenhaus Maria Hilf in Gangelt (seit 2013)
- Psychiatrisches Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin (2013)
- Zentralinstitut für seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim (seit 2020)
Zudem existieren verschiedene stationäre und ambulante Angebote der psychiatrischen Behandlung, die einzelne Soteria-Elemente (offene Stationen, Fokus auf Beziehung etc.) integrieren. Es wurden dabei Kriterien für Soteria-Einrichtungen sowie Kriterien für (akutpsychiatrische) Stationen mit integrierten Soteria-Elementen von der Internationalen Arbeitsgemeinschaft Soteria definiert. Weitere Informationen finden sich bei der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Soteria.